Sie waren die Legitimationsgrundlage für die Diskriminierung und Verfolgung Anderslebender und -denkender im Nationalsozialismus: Am 15. September 1935 wurden die „Nürnberger Gesetze“ erlassen. Die menschenverachtenden Bestimmungen bedeuteten auch für Europas Sinti und Roma systematische Verfolgung, Verschleppung und Ermordung. Es wird geschätzt, dass in Europa bis zu 500.000 Sinti und Roma dem Nazi-Terror zum Opfer fielen.


Über 19.000 starben im KZ Auschwitz, an Erschöpfung, nach menschenverachtenden medizinischen Versuchen durch Lagerarzt Josef Mengele, nach einem Lageraufstand dann Tausende in den Gaskammern. 50 Jahre später kehrten einige Überlebende erstmals an den schrecklichen Ort des systematischen Völkermords zurück. Die Medienwerkstatt Franken begleitete sie. Hartmut Ühlein, Mitautor des Films, erinnert sich.


Hartmut, wie kam es dazu, dass ihr den Film gemacht habt?

Hartmut: Ich hatte einen kleine Film über Sinti und Roma in Nürnberg gemacht: Es gab einen Sozialarbeiter, der sich sehr darum gekümmert hat, die Lebensbedingungen der Familien hier bei uns zu verbessern. Anfang der 80er wohnten diese vor allem mit ihren Wohnwägen auf einem Waldstück an der Regensburger Straße. Das war erbärmlich und der Sozialarbeiter hatte Alarm geschlagen. Daraufhin entstand in der Uffenheimerstraße eine kleine Siedlung für die Familien. Diesen Prozess haben wir im Auftrag der Stadt von der Medienwerkstatt filmisch begleitet. Dadurch hatten wir erste Kontakte zur Community und irgendwann hat mir jemand erzählt: „Wir fahren nach Auschwitz“ und dann habe ich gedacht, Mensch, das wäre doch was, das könnten wir begleiten.

Wie hast du die Dreharbeiten erlebt?

Hartmut: Als sehr intensiv, weil das war so unser Ansatz, wir wollten alles einfangen und haben uns viel Zeit genommen. Wir sind mit den Leuten im Bus von Nürnberg nach Auschwitz-Birkenau mitgefahren, haben einmal gemeinsam übernachtet und waren laufend im Gespräch. So haben wir alles mitbekommen, was in den Menschen vor sich geht. Viele hatten Geschwister, Eltern dort verloren, haben erlebt, wie sie in die Gaskammer kamen. In ein paar Interviews kann man dieses Gefühlschaos gar nicht einfangen.

Wie würdest du die Atmosphäre bei den Dreharbeiten beschreiben? Wie habt ihr es geschafft, dass sich die Menschen öffnen? Was habt ihr anders gemacht als die anderen?

Hartmut: Wir wussten nicht genau, was auf uns zukommt. Genauso wussten die Sinti und Roma nicht, was sie erwartet. Nicht mit uns und auch nicht mit dem, was in Auschwitz passieren würde. Es war erstmal eine offene und vertrauliche Atmosphäre, wir waren damals ja nicht das Fernsehen. Das Fernsehen war dann tatsächlich auch bei der Kranzniederlegung dabei. Ich kann mich erinnern, die sind einfach kurz aufgetaucht, haben ein paar Aufnahmen gemacht, drei Interviews und waren auch schon wieder weg. Wir haben es anders gemacht. Zurückhaltend, beobachtend haben wir eingefangen, was die Leute erzählen wollten. Keiner musste sich produzieren und sie konnten ihre Geschichten offen erzählen. Wir haben auf jegliche Inszenierung verzichtet, deshalb sind wir für den Film vom Zentralrat der Sinti und Roma, dem Vorsitzenden Romani Rose und anderen sehr gelobt worden, weil man da auch wirklich erleben konnte, dass man auch Filme anders machen kann – auf Augenhöhe mit den Menschen über die man berichtet. Wir konnten zurückhaltend beobachtend begleiten.

Erst Anfang der 80er Jahre hat die Bundesregierung die systematische Ermordung der Sinti und Roma als Völkermord anerkannt. Der für die Auszahlung der Entschädigungsleistungen zuständige Regierungspräsident von Köln behauptete noch 1984 in einem Verwaltungsgerichtsverfahren, dass Sinti und Roma nicht aus „rassischen Gründen“ verfolgt worden seien, sondern aufgrund ihrer angeblich „asozialen“ Lebensweise. Euer Film behandelt nicht nur die Vergangenheit der Sinti und Roma, er schildert auch die anhaltende Angst in der Community. Wie würdest du die Stimmung in der Mehrheitsgesellschaft Mitte der 80er Jahre beschreiben?

Hartmut: Die Kultur und Lebensweise der Sinti und Roma wurde mit großem Misstrauen und Unkenntnis beäugt. Die Sinti und Roma sind medial unter dem Radar gewesen. Die Shoah war Thema, aber ihre Vernichtung durch die Nazis war wenig präsent. Da war viel Unverständnis. Die wenigsten wussten etwas darüber, gesehen wurden nur die Wohnwägen, die schrecklichen Zustände der Areale, auf denen die Menschen leben mussten. Es gab kaum Kontakte untereinander. Man hat keinen Kontakt gesucht. Das hat sich erst geändert, als sich die Wohnsituation besserte und sich erste Nachbarschaftsverhältnisse aufbauen konnten.

Wie geht es dir heute, wenn du den Film siehst?

Harmut: Für mich ist der Film nach wie vor bedrückend, er berührt mich. Aber ich empfinde auch große Dankbarkeit, dass ich die Chance hatte, diese total gute Erfahrung zu machen. Ihre Situation, ihre Kultur, ihre Lebensbedingungen kennenzulernen und den Menschen näher zu kommen. Das hat mir viel gebracht. Man wird viel sensibler dafür, wie die Politik und die Gesellschaft mit Sinti und Roma und anderen Minderheiten umgehen. Das beobachtet man dann anders. Auch heute noch.

 

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Verfolgt und vergessen – Die Vernichtung der Sinti und Roma in Auschwitz und ihre Verfolgung bis heute 

Interview: Annette Link

Zum Hintergrund

„Verfolgt und vergessen“ aus dem Jahr 1985 lief auf mehreren Festivals und wurde mehrfach ausgezeichnet. Das Lager für Sinti und Roma war 1943 im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau errichtet worden. Rund 23.000 Sinti und Roma aus ganz Europa waren auf Grundlage des „Auschwitz-Erlasses“ in das Lager deportiert worden. Über 19.000 der dort Internierten wurden ermordet. Ein Widerstand der noch lebenden KZ-Insassen scheiterte im Mai 1944. Infolgedessen wurden die dort verbliebenen Sinti und Roma, darunter viele Frauen, ältere Menschen und Kinder, in den Gaskammern getötet. Im Oktober 1985 unternahm eine Gruppe deutscher Sinti und Roma eine einwöchige Reise nach Polen in das ehemalige Konzentrationslager Auschwitz. Mit dabei waren ehemalige Häftlinge und Angehörige von Menschen, die hier starben. Für sie war es nach vierzig Jahren ein Wiedersehen mit einem Ort, den sie lebend nie verlassen zu können glaubten.