Die Medienwerkstatt im Interview mit dem Verkäufersprecher Steve Zeuner und der stellvertretenden Vorsitzenden Claudia Schubert.
Claudia Schubert ist seit 2017 beim Straßenkreuzer dabei – zunächst unterstützte sie den Vertrieb des Sozialmagazins im Büro am Maxplatz an den Wochenenden. Seit 2018 ist sie stellvertretende Vorsitzende und widmet sich unter anderem dem Projekt “KreuzerBude”.
Steve Zeuner kam als junger Erwachsener eher zufällig nach Nürnberg – und ist absichtlich geblieben. Neben seiner Tätigkeit als Verkäufer des Strassenkreuzer engagiert sich Steve als Verkäufersprecher. Außerdem macht er die “Schicht-Wechsel” Führungen durch soziale Einrichtungen wie die Wärmestube und die Heilsarmee.
Claudia: Ich hatte die Doku tatsächlich seit der Ausstrahlung nicht mehr gesehen! Zur Vorbereitung auf unser Interview habe ich mir den Film dann nochmal angeschaut – und viel intensiver erlebt als damals. Wie positiv und hoffnungsvoll einer der Protagonisten, Petru, auf das Projekt und die Menschen in Nürnberg blickt, das hat mich sehr berührt. Ich finde gut, dass der Film jetzt nochmal gezeigt wird und im Zuge dessen auch darauf eingegangen wird, wie sich die Pandemie auf Menschen in sozialer Not auswirkt.

1997: Steve auf dem Cover des Straßenkreuzer zum dreijährigen Jubiläum des Sozialmagazins – kurz nach seiner Ankunft in Nürnberg.
Steve: Die Situation war zunächst sehr beängstigend, weil ja niemand so genau wusste, wie es beim Straßenkreuzer weitergehen soll. Während des ersten Lockdowns konnten wir keine Hefte verkaufen, die Schicht-Wechsel Führungen wurden pausiert, alles lief auf Sparflamme. Struktur und ein geregelter Alltag sind für viele Verkäufer*innen sehr wichtig, deshalb war es anfangs schwer, sich auf die neue Situation einzustellen. Die regelmäßigen Heftvorstellungen durch die Redaktion und der Austausch unter den Verkäufer*innen fiel ja teilweise komplett weg. Aber: Wir haben so gut es ging weitergemacht – die Magazine durch das Bürofenster ausgegeben oder eine Telefonkette ins Leben gerufen, um den Kontakt zu halten. Außerdem konnte ich weiterhin ins Büro kommen. Das war sehr wichtig für mich – dieses Gefühl, dass ich weiterhin zur Arbeit gehe, meinen Alltag habe.
Wie hat das mit der Telefonkette funktioniert?
Claudia: Insgesamt recht gut. Wichtig war uns vor allem, die sozialen Kontakte aufrecht zu erhalten: dass man jemandem zum Reden hat, jemanden anrufen kann, der zuhört. Aber wichtig war uns auch, herauszufinden: Wo gibt es Probleme? Braucht jemand Medikamente, oder Hygieneartikel? Können wir beim Einkaufen unterstützen? In den Telefonaten hört man die Wünsche und Nöte ganz gut mit raus…
Steve: Genau, wir haben regelmäßig mit allen telefoniert. Auf diese Art und Weise ist der Kontakt meines Wissens nach zu keiner Person abgebrochen.
Claudia: Wir haben auch einen Sozialpädagogen, den Max, der kümmert sich um Fälle, die ein bisschen mehr Betreuung brauchen. Wenn es Menschen nicht gut geht und sie ins Krankenhaus müssen beispielsweise.
Wie hat sich die Pandemie auf die Verkaufszahlen ausgewirkt?
Steve: Die Innenstädte sind leerer, es gelten Kontaktbeschränkungen. Ganz klar, dadurch machen die Verkäufer*innen weniger Umsatz und verdienen auch weniger.
Konnte dem entgegengewirkt werden?
Steve: Wir haben versucht den finanziellen Ausfall auszugleichen. Durch viele und großzügige Spender*innen konnten wir ab November 2020 bis Juni 2021 unsere rund 80 Verkäufer und Verkäuferinnen mit jeweils 100 Euro pro Monat unterstützen. Diese Solidarität zu erleben war unglaublich! Außerdem haben wir über Monate hinweg Einkaufsgutscheine gespendet bekommen und konnten diese weitergeben. Damit können die Verkäufer und Verkäuferinnen in verschiedenen Supermärkten einkaufen.
Was hat euch in dieser Zeit noch geholfen?
Steve: Mein Hobby, das Fotografieren. Wenn mir alles zuviel war und mir in meiner kleinen Wohnung die Decke auf den Kopf gefallen ist, bin ich mit meiner Kamera raus in die Natur. Das beruhigt mich – ich mach das schon so seit meiner Jugend.
Im Film wurden einige Verkäufer*innen begleitet. Wie geht es ihnen heute?
Claudia: Petru ist noch mit dabei. Er ist jetzt zusammen mit unserem Verkäufer Klaus Billmeyer (nicht im Film) Pfandbeauftragter bei unserem Projekt „Spende Dein Pfand“. Dort arbeitet er in Festanstellung. Die beiden sorgen seit 2019 am Flughafen dafür, dass Pfandgut geordnet und recycelt wird. Mittlerweile sind auch Standorte am Bahnhof, in Einkaufszentren dazugekommen und Berufsschulen kooperieren mit uns.
Steve: Ingrid ist leider verstorben, 2020.
Claudia: Rezme ist lange ausgefallen, weil sie gesundheitliche Probleme hat und zuletzt deshalb auch ins Krankenhaus musste – derzeit geht es ihr aber wieder so gut, dass sie seit Mitte letzten Monats wieder verkaufen kann.
Trotz aller Sorge und Schwierigkeiten durch Corona – was für neue Projekte gibt es, worauf freut ihr euch?

Die Kreuzerbude in der Königstraße, Foto: Wolfgang Gillitzer
Claudia: Wir haben ja dauerhaft reichlich Projekte wie z. B. die Straßenkreuzer Uni oder die Schichtwechsel-Führungen, die wir mithilfe unserer wenigen Hauptamtlichen und vielen Ehrenamtlichen stets mit Leben befüllen. Damit sind wir gut ausgelastet. Und doch haben wir ein neues Projekt: Unsere KreuzerBude! Das ist die ehemalige Lottobude in der Königstraße. Unserem Grafiker Wolfgang ist aufgefallen, dass sie leer steht – mitten in der Innenstadt. In Absprache mit der Stadt hat es geklappt, sie zu mieten.
Was soll dort passieren?
Claudia: Wir wollen präsent sein, informieren, ansprechbar sein. Mit Aktionen auf unsere Arbeit aufmerksam machen. Nun gibt es dort kein Glück durch Lose, sondern wir sind glücklich, wenn wir mit den Menschen ins Gespräch kommen. Es geht wie immer bei uns um Wahrnehmung auf Augenhöhe. Im Frühjahr geht es wieder los! Regelmäßig wird es besondere Aktionen geben. Etwa Einblicke in den Vertrieb, wenn der Verkäufersprecher über seine Aufgaben berichtet. Oder ein Making-of des Magazins, wenn Grafiker Wolfgang Gillitzer erklärt, wie er die Seiten baut und die Schriften wählt, eine Journalistin oder ein Fotograf über die Arbeit erzählt. Es soll ein kleiner Leuchtturm in der Stadtgesellschaft werden!
Claudia: Soweit denken wir derzeit noch nicht. Wir sind froh, wenn hier und allgemein wieder eine gewisse Normalität einkehrt. Vieles ist ja doch gehemmt – die Redaktion beispielsweise: Interviews für das Magazin finden oft über Zoom statt – oder mit Maske und Abstand. Das ist natürlich alles nötig und lässt sich irgendwie machen, aber der direkte Menschenkontakt geht schon verloren. Es ist einfach eine andere Gesprächsform. Es sind diese Kleinigkeiten, die sich überall niederschlagen. Man hält mehr Abstand zu den Verkäufer*innen, zieht zum Ratschen erst mal seine Maske über. Lauter kleine Krümel, die zum Sand im Getriebe werden.
Steve: Ich wünsche mir für die Verkäufer*innen, die bei Supermärkten verkaufen, dass sie im tiefsten Winter nicht mehr draußen stehen müssen. Derzeit ist das sehr unterschiedlich, wie da seitens der Inhaber*innen vorgegangen wird. Es wäre schön, wenn die Supermärkte sich das Projekt erst anhören würden und nicht direkt entscheiden, dass die Verkäufer*innen nicht im Eingangsbereich stehen dürfen.
Claudia: Trotz allen Herausforderungen und einigen Ungewissheiten gibt es noch immer Bewegung im Verein! Etwa durch das Housing-First-Projekt, das wir zusammen mit Lilith e.V., mudra und Hängematte e.V. in Nürnberg ins Leben gerufen haben. Das ist unser Hauptziel für dieses Jahr, das gut zum Laufen zu bringen.

Die Verkäufer*innen: Steve, Rezme, Petru und Ingrid.
Was genau ist das Housing-First-Projekt?
Claudia: Eigentlich ist die Handlungsweise ja immer: du brauchst zunächst einen Job, einen Personalausweis, eine gefestigte Lebensweise; dann bist du dazu befähigt, dir eine Wohnung zur Miete zu nehmen. Die Erfahrung in vielen Ländern hat jedoch gezeigt, dass es andersrum besser ist: man gibt den Leuten erst eine Wohnung, die eigenen vier Wände, wo man sich selbst entfalten kann, sich sicher fühlt. Wo man eine Tür hat, die man schließen kann, wo man keine Angst zu haben braucht, dass der Rucksack geklaut wird. Allein diese kleine Wohnung kann so viel Halt geben, dass die Menschen im Umkehrschluss fähig sind, sich auf sich selbst zu besinnen, sich um sich selbst zu kümmern, sich zu stabilisieren – eventuell im sozialen Leben und auch im Arbeitsleben wieder Fuß zu fassen. Und selbst, wenn sie im Arbeitsleben nicht mehr Fuß fassen können – dann haben wir einem Menschen geholfen, dass er sich wohlfühlt und wieder in Ruhe schlafen kann.
Was ist das Problem beim Schlafen in den Unterkünften?
Claudia: Viele können im Freien nur tagsüber schlafen, weil sie Angst haben, dass sie nachts ausgeraubt werden. In den Unterkünften ist es teilweise nicht viel besser: Auch dort wird gestohlen. Zudem muss man die meisten Unterkünfte um 7 Uhr morgens verlassen, hat keine Möglichkeit seine Habseligkeiten irgendwo unterzubringen. Und man schläft mit – manchmal mehreren – fremden Menschen in einem Zimmer, die vielleicht alkoholisiert sind oder psychisch krank.- Und gerade als Frau fühlt man sich dort oft unwohl. Wir hatten eine Verkäuferin, die war jahrelang in einer Unterkunft untergebracht, wo zu 90 Prozent Männer waren. Sie hat dort so wenig Zeit wie möglich verbracht. Mittlerweile hat sie eine eigene Wohnung – für sie ist es der Himmel auf Erden.
Steve: Wenn man keine Wohnung hat, kriegt man keine Arbeit. Hat man keine Arbeit, kriegt man keine Wohnung. Es ist ein Teufelskreis. Da wollen wir ansetzen.
Wie ist der Stand der Dinge? Was passiert dieses Jahr noch so?
Claudia: Wir stehen bereits mit der Stadt in Kontakt, schreiben Wohnungsgenossenschaften und -gesellschaften an, verhandeln mit privaten Vermieterinnen und Vermietern. Von letzteren haben wir bereits ein paar gefunden und freuen uns darüber, dass sowohl Privatpersonen als auch Firmen daran interessiert sind, das Projekt zu unterstützen. Im Frühjahr soll es richtig losgehen! Wir sind sehr optimistisch, dass trotz Corona dieses Jahr also hoffentlich noch so einiges passiert!
Steve: Genau! Ich hätte außerdem Lust mal selbst einen Straßenkreuzer-Film zu drehen, zusammen mit den Verkäufer*innen, so eine Art Video-Werkstatt ins Leben zu rufen. Die Ideen und die Motivation gehen uns hier also so schnell nicht aus… 😉
Interview: Valeska Rehm
Am Sonntag wiederholen wir den Film “Wir sind Straßenkreuzer – Das Sozialmagazin wird 25” von Robert H. Schumann und Günther Wittmann. Außerdem gibt es den Film in der Mediathek.