Am 8. Oktober wählt Bayern seine neue Regierung. Wir haben drei Initiativen und Einzelpersonen, die in der Vergangenheit von der Medienwerkstatt porträtiert wurden, mit Blick auf die Wahl zu ihren Forderungen, Ängsten und Hoffnungen befragt.
„Die Anfänge sind schon da“
Lena Prytula, Studentin aus Nürnberg und Jugendleiterin der jüdischen Gemeinde Nürnberg
“Ich bin Jüdin und habe auch viele jüdische Freund*innen. Wir unterhalten uns oft darüber, inwiefern unsere Zukunft in Deutschland noch eine Chance hat. Ich bin jetzt 23, ich bin vor ein paar Monaten mit meinem Freund zusammengezogen und möchte mir hier ein Leben aufbauen. Ich will nicht weg aus Deutschland. Doch die Entwicklungen der letzten Jahre machen mir Sorgen.
Zum Beispiel die Flugblatt-Affäre: Ich muss ehrlich sagen, dass mich nicht wirklich überrascht hat, wie Söders Entscheidung, Aiwanger im Amt zu belassen, ausgefallen ist. Wie Teile der Gesellschaft reagiert haben und dass die Umfragewerte sogar im Anschluss noch gestiegen sind, hat mir nochmal gezeigt, wie wenig Verständnis und Rücksicht manche für das Thema Antisemitismus aufbringen. Ich sehe da schon die Tendenzen, dass Menschen denken: “Ok nach 1945, da gab’s die Entnazifizierung und jetzt sind alle wieder glücklich und das wird uns nie wieder passieren.” Doch Aktionen, wie das antisemitische Flugblatt, zeigen, dass das nicht der Fall ist. So eine mangelnde Selbstreflexion finde ich extrem problematisch. Jeder einzelne Mensch hat eine Verantwortung, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Ich frage mich immer: Wenn nicht Deutschland, wer dann? In jeder Bundestagsrede wird gesagt: “Nie wieder” und “Wehret den Anfängen”, aber ganz ehrlich: die Anfänge sind schon da und es wird nichts dagegen unternommen.
Den Antisemitismus bekommt nicht jede Person so stark mit, wie ich als Betroffene. Aber wenn die Geschehnisse dann schon so stark in der Presse sind und viele Menschen das kleinreden, denke ich mir schon: “Ok, wir haben ein gewaltiges Problem.”
Da fühle ich mich dann nicht gesehen und nicht gehört. Wenn ich mich in meiner Freizeit gegen Diskriminierung engagiere und viel Aufklärungsarbeit leiste und dann trotzdem Leute sagen: Ist doch alles gar nicht so wild.
Meinungsfreiheit ist für mich unabdingbar und ich finde es wichtig Menschen zuzuhören und von anderen zu lernen, aber bei Hassrede hört das auf: Hass ist keine Meinung! Diskriminierung hat keinen Platz in unserer Gesellschaft verdient. Ich bin wahnsinnig enttäuscht, dass wir uns im Kreis drehen und nicht so richtig vorankommen, obwohl es viel zu lange schon überflüssig ist, viel mehr Toleranz und Offenheit einzufordern und aufeinander zuzugehen.
Meine wichtigste Forderung an die neue Regierung wäre, dass man Minderheiten zuhört: Dass man ihre Sorgen und Ängste, teilweise auch Existenzängste, Ernst nimmt und wirklich politisch etwas macht: Mehr Gelder in die Finanzierung von ehrenamtlichen Projekten, die sich beispielsweise mit religiösem oder kulturellem Austausch beschäftigen. Und: dass man Vorfälle, die diskriminierend sind, sei es rassistisch, homophob oder antisemitisch, als solche anerkennt und nicht als Einzelfälle abstempelt. Der Moment, in dem man anfängt, keine Konsequenzen zu ziehen, gibt den Täter*innen Bestätigung. Da hoffe ich, dass die Justiz strenger durchgreift.
Ich bin aktuell im letzten Studienjahr und arbeite nebenbei in meiner Gemeinde als Leitung im Jugendzentrum. Ich bin weiterhin politisch interessiert und ehrenamtlich engagiert und lasse mich nicht unterkriegen. Mein Fokus liegt jetzt verstärkt darauf, jungen jüdischen Menschen dabei zu helfen, selbstbewusst mit ihrer Identität umzugehen und eine lebendige Community mitzugestalten, die ihnen Sicherheit und Kraft gibt. Das gibt mir Hoffnung – und auch, wie viele Menschen es gibt, die sehen, dass wir uns gerade auf einem richtig gefährlichen Weg in Deutschland befinden und die wirklich etwas verändern wollen, in den Schulen, in den Gemeinden und in den Jugendzentren.”
„Mit der Geschlechtergerechtigkeit endlich Ernst machen“
Daniela Dahm, Mitgründerin und Geschäftsführerin von Lilith e.V.
“Wir sind ja eine Drogenhilfe. Das heißt natürlich ist uns die Drogenpolitik wichtig, aber auch viele andere gesellschaftliche Themen spielen in diesen Bereich mit hinein, die sich gegenseitig bedingen: Wohnungslosigkeit, geschlechterspezifische Gewalt oder die Auswirkungen unserer Leistungsgesellschaft auf den Einzelnen – alles Themen, die Menschen aus Verzweiflung zum Drogenkonsum bringen können.
Ein Trend, den wir in der Einrichtung ganz besonders beobachten können, ist beispielsweise, dass immer mehr leistungssteigernde Drogen konsumiert werden – auch von jüngeren Leuten, um den hohen Anforderungen, die an sie gestellt werden, gerecht zu werden.
In der Beratung merken wir jeden Tag, dass es nicht um Einzelschicksale geht, sondern um strukturelle Benachteiligungen. Von daher geht es für mich auch gar nicht anders, als mich für politische Themen zu interessieren und zur Wahl zu gehen. Auch im Team verstehen wir uns als politische Einrichtung, wir unterhalten uns viel, lesen die Wahlprogramme, tauschen uns aus. Wir versuchen daher auch unsere Klientinnen* zu motivieren, sich an der Gestaltung des Landes zu beteiligen. Wir führen politische Diskussionen, wobei wir natürlich in keiner Weise parteipolitisch agieren – es geht vielmehr um gesellschaftliche Teilhabe und es kann heilsam sein für die Frauen, zu verstehen, dass gesellschaftliche Strukturen ihre Situationen verursachen. Viele Frauen gehen beispielsweise davon aus, dass sie selber Schuld sind, wenn sie Gewalt erfahren haben.
Es wird immer wichtiger, die demokratischen Parteien zu stärken. Ich mache mir Sorgen, wenn ich mir die Prognosen anschaue. Es ist vielleicht wichtiger denn je, sich zu positionieren und wählen zu gehen. Meine Forderungen an die neue Regierung wären: Mit der Geschlechtergerechtigkeit endlich Ernst machen! Das Gewaltschutzgesetz für alle umzusetzen und auch die Istanbul-Konvention, ein internationales Abkommen zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen* und Mädchen endlich konsequent zu implementieren.
Bundesweit tut sich einiges, das gibt mir Hoffnung: Drogenkonsumräume und Drug-Checking sind mittlerweile grundsätzlich erlaubt! Aber Bayern ist bei der Drogenpolitik leider nicht gerade innovativ. Drogenkonsumräume gibt es hier noch keine! Doch wir brauchen sie – gerade in Nürnberg, wo es besonders viele Drogentote im bundesweiten Vergleich gibt. Wichtig ist mir, dass man auch hier den Aspekt der geschlechtsspezifischen Gewalt berücksichtigt und einen Frauen*-Drogenkonsumraum mitdenkt. Grundsätzlich sollte man Drogenabhängigkeit endlich als Erkrankung anerkennen und diesen Schritt politisch zu Ende denken.
Egal wie das Ergebnis am Sonntag aussieht: Wir setzen uns weiter dafür ein, dass es auch hier vorangeht und klären auf!”
„Es wäre so wichtig für unsere Gesellschaft, arme und bedürftige Menschen nicht gegeneinander auszuspielen“
Ilse Weiß, Chefredakteurin des Sozialmagazins Straßenkreuzer
“Der Straßenkreuzer wird nächstes Jahr 30 Jahre alt. Das Thema Obdachlosigkeit hat sich in diesen 30 Jahren jedoch nicht erübrigt, ganz im Gegenteil. Aber: Wir reden weiterhin offen über das Thema und weichen nicht aus. Ich persönlich finde wichtig, dass kein Betroffener eine falsche Scham empfinden muss, über einen Zustand, der gesellschaftlich indiskutabel und strukturell bedingt ist. Viele Menschen werden noch immer stigmatisiert – doch Obdachlosigkeit ist keine persönliche Schuldfrage.
Bezüglich der Wahl mache ich mir vor allem Gedanken wegen des massiven Anstiegs rechter und populistischer Inhalte. Das ist ein Thema, dass uns auch hier im Verein umtreibt. Es wäre so wichtig für unsere Gesellschaft, arme und bedürftige Menschen nicht gegeneinander auszuspielen. Die wirklichen Probleme liegen ja nicht bei den Menschen, die wenig Geld haben, oder die geflüchtet sind – das kann mir niemand erzählen. Ganz unabhängig davon, dass es wirklich berechtigte Anliegen in einigen Kommunen gibt, zum Beispiel, wie Menschen gut integriert und sicher untergebracht werden können, darf es nicht angehen, Stimmung auf dem Rücken vulnerabler Gruppen zu machen. Das ist schlechte Politik und bereitet uns Sorgen.
Ich wünsche mir ehrlichere Aussagen und mehr Klarheit von unserer zukünftigen Regierung. Bayern könnte sich beispielsweise dafür stark machen, dass es vergleichbare Sozialleistungen in allen europäischen Ländern gibt. Damit nicht so viele Menschen mit Hoffnungen aus Rumänien kommen und dann hier am Hauptbahnhof stranden. Es gibt keine Harmonisierung der Hilfssysteme und des Arbeitsmarktes in der EU und diese extreme Ungleichheit ist ein großes Problem.
Zu unserem 30-jährigen Jubiläum planen wir eine Ausstellung im Neuen Museum mit einem bunten Rahmenprogramm, das von unseren Verkäufer*innen mitgestaltet wurde. Damit wollen wir das Thema Obdachlosigkeit, unser ursprüngliches Kernthema, in die Mitte der Stadt und in den öffentlichen Raum tragen und uns auch damit beschäftigen, welche soziale Ausgrenzung damit oft einhergeht.
Eine der Veranstaltungen wird daher eine Podiumsdiskussion mit dem Thema sein: Was macht die Existenz von Obdachlosigkeit mit uns als Gesellschaft? Denn es ist paradox: Irgendwie wollen wir den Zustand der Obdachlosigkeit nicht haben, finden ihn schrecklich, aber viele schauen weg, wenn sie damit konfrontiert werden. Meine Arbeit verstehe ich daher insgesamt auch als politisch und in gewisser Weise provozierend: Wir zeigen die Situation, wie sie ist, wo andere und auch die Politik gerne mal mit der Schulter zucken.
Wir haben in unserer aktuellen Ausgabe ein Interview mit dem Politikwissenschaftler Martin Stammler geführt, der zu rechtem Hass gegen Arme forscht. Im Interview geht es darum, wie sich rechtes Gedankengut in Gewalt gegen Arme oder Obdachlose manifestiert. Dem zugrunde liegt ein sozialdarwinistisches Weltbild, das wir aus dem Nationalsozialismus kennen. Also: Obdachlose und Arme sind “wertlos”. Mit Blick auf die Wahl ist dieses Thema natürlich hochaktuell. Wir wollten dieses Gebiet unbedingt in diesem Straßenkreuzer-Semester angehen und darüber aufklären.
Was uns Hoffnung gibt, ist unser Projekt Housing First. Das Projekt hat mittlerweile bereits 15 Menschen eine Wohnung vermitteln können und wir sehen daran, wie groß das Engagement privater Vermieter*innen sein kann. Es zeigt sich die volle Bandbreite an Lebensrealitäten: Einerseits haben wir Menschen, die auf der Straße leben und andererseits unglaublich viele engagierte Vermieter*innen, die nicht wegschauen und die das Projekt genauso unterstützenswert finden wie wir. Alle ziehen an einem Strang. Die Arbeit an Housing First hat mir nochmal vor Augen geführt: Wir können nicht auf ein großes Leuchtturmprojekt warten, bei Themen, die uns umtreiben, auch kleine Schritte helfen und es ist gut, wenn Organisationen beginnen etwas zu tun. Natürlich ist die Politik dann gefragt, diese Projekte zu unterstützen, aber ich warte nicht auf die nächste Regierung oder einen Politikwechsel, sondern fange an, da etwas zu tun, wo ich etwas tun kann.”